
Neue Anforderungen an lebendige Quartiere
Einsamkeit auf Quartiersebene
Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das aus der Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen entsteht, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Sie entwickelt sich im sozialen Gefüge und in der (reduzierten) alltäglichen Interaktion. Menschen in allen Lebensphasen und Altersklassen sind potenziell von Einsamkeit betroffen: Jugendliche wie Ältere und Menschen im Berufsleben oder im Übergang zum Ruhestand. Einsamkeit kann auch Ausdruck von Lebenslagen sein, die sich in einem mangelnden Zugang zu sozialen Ressourcen und gesellschaftlichen Infrastrukturen ausdrücken.
Um Einsamkeit in ihrer Vielschichtigkeit vorzubeugen bzw. das Risiko der Vereinzelung mit präventiven Maßnahmen und Strukturen zu verringern, ist aus stadtplanerischer Sicht zu klären, wie das soziale Zusammenleben und das Wohnumfeld künftig gestaltet werden sollten, damit sich Quartiere und Nachbarschaften gegen Einsamkeit wappnen können (Potz/Scheffler, 2023). Die kommunale Ebene wird als Ausgangspunkt für einen integrierten, praxisorientierten Untersuchungsansatz begriffen. Das Quartier wird hier als ein Gebiet innerhalb der Stadt oder Siedlung verstanden, das durch Nähe und städtebauliche Struktur das Entstehen lokaler sozialer Netzwerke und Gemeinschaften ermöglicht. Erkenntnisse auf kleinräumiger Ebene sind daher notwendig.
Einsamkeitsrelevante Infrastrukturen und Orte
Einsamkeitsrelevante Infrastrukturen im Quartier sind diejenigen, die gesellschaftliche Teilhabe, Nachbarschaften und niederschwellige, soziale Einbindung befördern. Sie können dazu beitragen, Einsamkeitsgefühlen vorzubeugen bzw. sie zu verringern. Dazu braucht es konzeptionelle und gestalterische Qualitäten, die ein niederschwelliges Zusammenkommen befördern. Einsamkeitsrelevante Infrastrukturen im Quartier sind im Wesentlichen:
- das Wohnumfeld und der öffentliche Raum mit Plätzen, Parks, Grün- und Sportanlagen;
- Begegnungsorte wie Mehrgenerationenhäuser, Stadtteilzentren, Bibliotheken, Nachbarschaftstreffs mit einladender und inklusiver Gestaltung sowie unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten;
- Orte der Daseinsvorsorge und Nahversorgung wie Supermärkte, Hausärzte, Apotheken, Bäckereien, Gastwirtschaften, die Alltagsbegegnungen und Gespräche mit anderen Menschen unterstützen.
Gerade für Menschen, die sich aufgrund ihres Einsamkeitserlebens sowie der Stigmatisierungsbefürchtung zurückgezogen haben, stellt das Aufsuchen sozialer, kommunikativer Orte jedoch eine Hürde dar. Daher ist es wichtig, diese Orte auch für Einsame attraktiv zu gestalten. Grundsätzliches Ziel für die Ausgestaltung der einsamkeitsrelevanten Infrastrukturen mit Blick auf Einsame ist es:
- niederschwellig zufällige wie intendierte und wiederkehrende Begegnungen mit Menschen einfacher zu gestalten und zu befördern, so dass die Hemmschwelle sinkt, Kontakt zu Menschen aufzunehmen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben;
- sich in diesen Orten und Räumen allein aufhalten zu können, ohne das Gefühl der Stigmatisierung oder des Zwangs der sozialen Interaktion zu empfinden, und trotzdem das Gefühl zu haben, beiläufig am Geschehen beteiligt zu sein;
- das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesen Orten und Räumen und den Personen, die sich dort aufhalten, zu stärken.
Gelegenheitsstrukturen für Teilhabe vor Ort
Hauptamtliche Hilfs- und Unterstützungsdienste wie auch zivilgesellschaftliche und Engagementstrukturen sind für das Thema Einsamkeit zu sensibilisieren, um die Teilhabe vor Ort zu fördern. Niederschwellige, soziale Interaktionen können Nachbarschaft stärken, Begegnungen ermöglichen und somit beitragen, Einsamkeit vorzubeugen oder zu reduzieren. Neben den professionellen Hilfs- und Unterstützungsangeboten mit Aktivitäten, die verschiedene Risikofaktoren für Einsamkeit adressieren (z.B. zielgruppenübergreifend, intergenerativ, digital/analog, im Kontext von Armut oder Bildung), sind die BewohnerInnen und die Engagementlandschaft vor Ort entscheidend für die Förderung sozialer Teilhabe: Vereine, lokale Initiativen und Bündnisse, Freiwilligenagenturen, Kirchengemeinden, Religionsgemeinschaften und migrantische Initiativen.
Es geht darum, das Handlungsfeld Einsamkeit im Quartier integriert anzugehen, mit Aktivitäten, Ideen und Maßnahmen in den relevanten Bereichen (z.B. Gesundheit, Pflege, Kultur, Bildung, Sport, Inklusion, Quartiersarbeit), damit einsamkeitsgefährdete bzw. -betroffene Personen motiviert und befähigt werden, ihrer Einsamkeit entgegenzutreten. Daneben sind im Quartier bestehende Einrichtungen und Infrastrukturen für einsamkeitsrelevante Aktivitäten zentral: Wie lassen sich der öffentliche Raum und vorhandene Begegnungsorte (um)nutzen, um einsamkeitsgefährdete bzw. -betroffene Personen zu erreichen?
Einsamkeitsresiliente Quartiere?
Der Handlungsansatz Einsamkeit ist noch keine etablierte Dimension in der Stadtforschung, kann aber Erkenntnisse für das Zusammenleben und die Gestaltung von Quartieren aufzeigen. Die Handlungsbedarfe bei Prävention und Intervention sind groß und erfordern einen integrierten Ansatz. Die wichtigsten Erkenntnisse und Erfordernisse für das Handlungsfeld Einsamkeit im Quartier betreffen Orte, Akteure und Strukturen gleichermaßen (vgl. Potz/ Reichert-Schick/Scheffler 2024).
Einsamkeitsprävention ist eine Gemeinschaftsaufgabe und bedarf einer interdisziplinären Herangehensweise, die soziale und räumliche Aspekte vereint. Das Quartier als zentrale Handlungsebene spielt dabei eine entscheidende Rolle: Hier finden soziale Interaktionen statt und entstehen Nachbarschaften und Zugehörigkeit. Einsamkeitsresiliente Quartiere können Verbindung statt Vereinzelung fördern.
Literaturnachweise
- Potz, Petra/Reichert-Schick, Anja/Scheffler, Nils 2024: Einsamkeit. Neue Anforderungen an lebendige Quartiere. Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 52, S. 48-53
- Potz, Petra/Scheffler, Nils 2023: Einsamkeit und integrierte Stadtentwicklung. KNE-Expertise 14. Berlin: Kompetenznetz Einsamkeit
Autor*innen
Dr. Petra Potz ist Stadtplanerin und Inhaberin des Büros location³ in Berlin. Sie arbeitet zu innovativen Akteurskonstellationen in der integrierten Stadtentwicklung und den Bedingungen nachhaltiger sozialer Quartiersentwicklung. Kontakt: potzlocation3de
Nils Scheffler ist Stadtplaner und Inhaber des Büros Urban Expert in Berlin. Er ist DGNB-Auditor für nachhaltige Stadtquartiere und unterstützt öffentliche und private Akteure im Bereich der integrierten, nachhaltigen Stadtentwicklung. Kontakt: schefflerurbanexpertnet
Der Beitrag ist im Rahmen des Kooperationsprojekts „Einsamkeit. Neue Anforderungen an lebendige Quartiere“ der Wüstenrot Stiftung mit Urban Expert und location³ entstanden. (www.quartier-einsamkeit.de)