Hände von älterer Frau, die Münzen zählt.

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Ungleichheiten zu verringern, ist das zehnte Nachhaltigkeitsziel der Vereinten Nationen. Wie es bei diesem Thema in Deutschland steht, haben wir den Politikwissenschaftler Professor Dr. Christoph Butterwegge gefragt. Er forscht zu den Themen Armut, Vermögen, Klasse und Bildungschancen.

 

Im März veröffentlichte der Paritätische den jährlichen Armutsbericht: Demnach haben 14 Millionen Menschen in Deutschland nicht genug Geld, um sich ausreichend Nahrung, Trinkwasser und Kleidung zu kaufen sowie Kosten für Wohnraum und Gesundheit zu bezahlen. 2022 waren damit fast eine Million Menschen mehr von Armut betroffen als 2019. Woran liegt das?

Christoph Butterwegge: Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die extrem hohen Kosten für Strom und Heizung nach der russischen Ukraine-Invasion, die länger andauernde Inflation und die drohende Klimakatastrophe verstärken die sozioökonomische Ungleichheit. Da auch die Maßnahmen der Bundesregierung – Überbrückungshilfen, „Rettungsschirme“ und „Entlastungspakete“ – selten für einen wirklichen sozialen Ausgleich gesorgt haben, sind die Reichen während der vielen Krisen noch reicher und die Armen noch mehr geworden.

Es gibt große regionale Unterschiede: Zum Beispiel sind in Brandenburg 14 Prozent der Menschen von Armut betroffen, in Nordrhein-Westfalen sind es knapp 20 Prozent. Wie sind diese Unterschiede zu erklären?

Das ist nicht in jedem Fall zu erklären, hat aber mit der geografischen Lage eines Bundeslandes, seiner (sozial)politischen Kultur, der unterschiedlichen Wirtschaftsentwicklung, bestimmten Traditionen und den politischen Schwerpunkten der jeweiligen Landesregierungen zu tun. Brandenburg etwa profitiert von seiner Nähe zur Bundeshauptstadt (Stichwort: Berliner Speckgürtel), in Nordrhein-Westfalen ist das Ruhrgebiet wegen seiner Strukturprobleme (Kohle- und Stahlkrise) nach Jahrzehnten mit starkem Wirtschaftswachstum zum Armenhaus der Republik geworden. Für Bremen, wo sich die Armut vor allem in Bremerhaven konzentriert, gilt wegen der Werftenkrise und des niedergegangenen Fischfangs ganz Ähnliches.

Auch Bildung ist in Deutschland ungleich verteilt. Kommen Menschen aus einem Haushalt mit mehr Geld, dann haben sie bessere Bildungschancen als Menschen aus Haushalten mit wenig Geld. Dabei ist Bildung ein Menschenrecht – jedes Kind hat das Recht auf Schulbildung, jeder Mensch ein Anrecht darauf, seine grundlegenden Lernbedürfnisse zu befriedigen. Gibt es hier in Deutschland Fortschritte?

Für die soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur wird hierzulande immer noch sehr wenig getan. Politiker wie Bundesfinanzminister Lindner sprechen zwar viel über die Bildung der Kinder, um von der notwendigen höheren Besteuerung reicher Erwachsener abzulenken. Doch am Ende wird gern auf diesem Politikfeld gekürzt. Sogar für eine großzügige Kindergrundsicherung fehlt angeblich das Geld, während für die Aufrüstung praktisch über Nacht 100 Milliarden Euro auf Kredit mobilisiert wurden. Warum sollen nicht, wie in den skandinavischen Ländern, alle Kinder in öffentlichen Ganztagseinrichtungen kostenlos ein warmes Mittagessen bekommen, ohne dass ihre Eltern dies im Falle der Bedürftigkeit erst beantragen oder Spenden unter privaten Wohltätern einsammeln müssen?

Besonders alleinerziehende Mütter oder Väter, kinderreiche Familien, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind von Armut betroffen. Welche Maßnahmen helfen, diese Ungleichheit abzumildern?

Für die Alleinerziehenden und die Mehrkinderfamilien sind besser mit Personal und Sachmitteln ausgestattete Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wichtig. Denn so wird ihr Nachwuchs auch in den Randzeiten gut versorgt und sie können selbst vollzeiterwerbstätig sein und sich damit gewissermaßen aus der Armut herausarbeiten. Die Asylbewerberleistungen für einen Alleinstehenden sind über 100 Euro pro Monat geringer als Bürgergeld und Sozialhilfe. Gerade ist beschlossen worden, dass geflüchtete und geduldete Menschen diese unter das soziokulturelle Existenzminimum abgesenkten Sätze länger erhalten sollen. Außerdem sollen sie die Leistungen eingeschränkt erhalten, mit Sachleistungen und einer Bezahlkarte. Mit den von der Bundesrepublik ratifizierten UN-Konventionen ist das übrigens nicht vereinbar.

Bei Vereinsgründungen gibt es eine Tendenz von Freizeit- und Sportvereinen hin beispielsweise zu Bildungsvereinen. Wo muss bürgerschaftliches Engagement im Bereich Bildung gestärkt werden, um Ungleichheiten zu überwinden?

Die starke Fokussierung auf Bildung verführt zu dem Fehlschluss, dass Armut und soziale Ungleichheit vor allem auf fehlende Bildung und Ausbildung von ethnischen Minderheiten und Migrant(inn)en ohne deutsche Sprachkenntnisse zurückzuführen seien. Doch in Wirklichkeit führt der Mangel an materiellen Ressourcen auch bei Deutschen zu Bildungsbenachteiligung. Strategisch erzeugt die Fixierung auf Bildung den Irrglauben, dass Armut und soziale Ungleichheit nur durch Bildung bekämpft werden könnten. Bildung versagt sowohl als sozialer Gleichmacher als auch im Kampf gegen die Armut. Das gilt für Deutschland wegen seines gegliederten Schulsystems noch mehr als für andere entwickelte Industriestaaten. Bürgerschaftliches Engagement etwa von Lesepaten in Schulen ist wichtig. Es hilft, die Bildungsbenachteiligung armer Kinder abzumildern. Jedoch kann dieses Engagement nicht verhindern, dass sich soziale und Bildungsungleichheit so lange reproduziert, wie kapitalistische Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen fortbestehen.

Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.

 

Die Fragen stellte Ramona Ehret.