Engagement Zusammenhalt © Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena

Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel. Sie wird mobiler, digitaler und heterogener. Die damit einhergehenden Chancen stellen uns auch vor Herausforderungen: Wie können wir sicherstellen, dass sich jede*r Einzelne zugehörig fühlt, dass Vielfalt nicht bloß passiv hingenommen, sondern aktiv gestaltet wird?

Weltweit erleben wir im Augenblick einen rasanten technologischen, ökonomischen, politischen und sozialen Wandel. Auch in Deutschland sind die Folgen dieser Entwicklungen spürbar. Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel beschleunigen die Fliehkräfte, die die Gesellschaft auseinanderzutreiben drohen. Auch wenn der Zusammenhalt in Deutschland noch besser ist, als sein Ruf, wird der Riss durch die Gesellschaft größer. Dieser Trend verlangt nach gemeinsamen Anstrengungen, damit unsere Gesellschaft auch in Zukunft zusammenhält und weiterbesteht.

Denn sozialer Zusammenhalt macht eine Gesellschaft lebenswert und zukunftsfähig. In Gesellschaften mit einem starken Zusammenhalt haben die Menschen stabile, vertrauensvolle und vielfältige soziale Beziehungen sowie eine intensive und positive emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen: Die Menschen fühlen sich zugehörig und als Teil eines größeren Ganzen. Des Weiteren haben sie eine hohe Gemeinwohlorientierung. Das drückt sich darin aus, dass Menschen eher bereit sind, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen und dabei auch für die Schwächeren und Hilfebedürftigen da zu sein.

Es lassen sich nach unserer Erfahrung drei Bereiche identifizieren, anhand derer der gesellschaftliche Zusammenhalt erfasst werden kann (Bertelsmann Stiftung 2016):

  1. Soziale Beziehungen
  2. Verbundenheit
  3. Gemeinwohlorientierung

Siehe Abbildung: Gesellschaftlicher Zusammenhalt © Bertelsmann Stiftung

Vor allem die Frage der Akzeptanz von Vielfalt sowie der Umgang mit ihr hat in den letzten Jahren unsere Gesellschaft polarisiert und treibt ihre Mitglieder auseinander. Zunehmende Vielfalt ist jedoch per se kein Hindernis für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vielfalt macht die Gestaltung des Zusammenhalts jedoch anspruchsvoller. Denn so sehr Vielfalt unser Leben bereichert und Chancen bietet – die Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Traditionen, Gebräuchen und Hintergründen birgt auch immer das Potenzial für Spannungen und Konflikte. Das Zusammenleben in Vielfalt erfordert Verständigungs- und Aushandlungsprozesse um gelebte Werte sowie unterschiedliche Vorstellungen des Zusammenlebens. Es muss daher aktiv gestaltet werden. Ein gelingender Umgang mit Vielfalt bedeutet im Minimalfall, Konflikte gewaltfrei zu regeln. Im Idealfall heißt es: Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten fühlen sich in gleichem Maße zur Gesellschaft zugehörig, haben die gleiche Chance auf Wohlstand, finden politisch Gehör und pflegen untereinander, auch über die eigene Gruppe hinaus, wertschätzende soziale Beziehungen. Daraus leitet sich die Verantwortung ab, Vielfalt nicht bloß zu tolerieren und passiv zu ertragen, sondern sie anzuerkennen und aktiv zu gestalten. Das schließt auch ein, die Einhaltung sozialer Regeln und Werte des Zusammenlebens von allen hier Lebenden einzufordern, sowie auch selbst vorzuleben.

Es kommt also darauf an, einen respektvollen und anerkennenden Umgang miteinander zu praktizieren, Diskriminierungen entgegen zu treten und Teilhabechancen zu ermöglichen – all dies auf der Basis des Grundgesetzes, das den verbindlichen Rahmen für das Zusammenleben in Vielfalt bietet. Dies erfordert strukturelle Maßnahmen ebenso wie Offenheit, Toleranz und die positive Anerkennung von Vielfalt. Laut der Studie „Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017“ empfindet etwa ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland Vielfalt als Bedrohung und steht dieser ambivalent gegenüber (Bertelsmann Stiftung 2017). Umso wichtiger ist eine kontinuierliche Verständigung verschiedener Akteure, wie beispielsweise Parteien, Gewerkschaften oder Arbeitgeber*innenverbände, über Werte und Regeln des Zusammenlebens. Wertebildung, die demokratische, menschenrechtsbezogene Werte im Alltag aushandelt und ausgestaltet, ist daher zentral für ein gelingendes Zusammenleben in Vielfalt. Hier sind auch die Bürgerinnen und Bürger in der Pflicht, immer wieder den Austausch zu suchen und die notwendigen Dialoge darüber zu führen, welche Werte maßgeblich für das Zusammenleben sind.

Ja, schon heute wird gesellschaftlicher Zusammenhalt bereits von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie beispielsweise ehrenamtlichen Nachbarschaftshilfen oder Begegnungszentren erfolgreich gestaltet. Diese Aktivitäten müssen noch verstärkt werden und vor allem jene Menschen erreichen, die Vielfalt ambivalent sehen oder sich im Umgang damit schwertun.

Ehrenamtliches Engagement hat eine zentrale Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen und sich dabei auch für die Schwächeren und Hilfsbedürftigen einsetzen. Gerade in unruhigen Zeiten wie diesen ist Engagement wichtiger denn je, weil es Menschen zusammenbringt und somit einen wichtigen Beitrag zum gelingenden Miteinander in einem Gemeinwesen leistet. Die Hilfsbereitschaft bei der Versorgung und Integration der Geflüchteten, insbesondere in den letzten vier Jahren, zeigt, wie groß das Potenzial in der Bevölkerung ist.

Bei all den positiven Effekten von Engagement für den Zusammenhalt darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass nicht alle die gleichen Chancen haben, sich in die Gesellschaft einzubringen. Engagement ist von sozioökonomischen Ressourcen abhängig – man muss es sich also leisten können (Simonson et al. 2017). Die Bereitschaft, sich zu engagieren, ist aber auch davon abhängig, wie sehr man sich als Teil der Gesellschaft wahrnimmt sowie Respekt und Anerkennung erfährt. Es braucht daher mehr Gespür dafür, wo Ausschlussmechanismen greifen – gesellschaftliche Minderheiten müssen dabei ebenso im Blick sein wie diejenigen, die sich sozial ausgegrenzt fühlen, die Niedrigqualifizierten und nicht zuletzt die „alte Mittelklasse“, die sich mit ihren Wertvorstellungen – zumindest in Teilen – nicht mehr ernst genommen fühlt (Reckwitz 2017).

Eine besondere Bedeutung kommt der lokalen Ebene zu. Dies zeigen unter anderem auch die Erfahrungen aus lokalen Fallstudien deutlich (Bertelsmann Stiftung 2019a). Hier begegnen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion, hier können sie sich konkret einbringen und Selbstwirksamkeit erfahren.

Zugleich ist vielerorts spürbar, dass die alten Modelle von Ehrenamt nicht mehr passgenau sind, nicht zuletzt deswegen, weil die Gesellschaft mobiler, digitaler und heterogener geworden ist. Die Engagementinfrastruktur ist deswegen auf Erneuerung angewiesen, sie muss inklusiver und flexibler werden, damit auch die gesellschaftlichen Gruppen angesprochen werden, die das traditionelle Ehrenamt bislang nicht erreicht hat. Grundsätzlich sollten Verwaltung und Politik das bürgerschaftliche Engagement noch ernster nehmen, als gestaltende Kraft auf Augenhöhe und nicht als Lückenbüßer für fehlende Mittel der öffentlichen Hand.

Beim Young Europeans‘ Forum, das vom 25. bis 27. Juni 2019 in Berlin von der Bertelsmann Stiftung und dem Aladin Projekt in Kooperation mit der UNESCO durchgeführt wurde, haben rund 100 junge Menschen aus Europa, die sich haupt- oder ehrenamtlich für ein gutes Miteinander engagieren, über Herausforderungen und Lösungsansätze zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts diskutiert. Sie haben Erfahrungen, Ideen sowie gute Praxis ausgetauscht, um mit- und voneinander zu lernen. Gemeinsam haben sie hierzu an Lösungen gearbeitet und Ideen entwickelt, sowie wichtige Impulse für ihr Engagement für den Zusammenhalt im 21. Jahrhundert mitgenommen. Das Ergebnis: Gesellschaftlicher Zusammenhalt beginnt mit der Qualität menschlicher Begegnungen. Belastbare soziale Beziehungen und Netzwerke sind hierfür ein wichtiger Grundpfeiler. Dieses erste Young Europeans‘ Forum und Verbindungen, die zwischen den jungen Akteur*innen dabei entstanden sind, sind ein Startpunkt, der einen ersten Beitrag leistet, den Zusammenhalt zu stärken. Deutlich wurde aber auch: Es bedarf auch struktureller Förderung und Unterstützung, gerade auch außerhalb der Großstädte.
Weitere Informationen zu der Veranstaltung

Eine aktive Zivilgesellschaft trägt wesentlich zum Zusammenhalt im 21. Jahrhundert bei: Unser Leitbild sollte eine Gesellschaft sein, in der sich jede*r Einzelne zugehörig fühlen kann, unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht, Religion oder sozialem Status. Die Gesellschaft braucht zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die sich für ein friedliches Miteinander engagieren, das durch Gleichwertigkeit, Respekt, Toleranz und Vertrauen geprägt ist. Diese sind wesentliche Bestandteile unserer liberalen Demokratie.

Gerade in kleinstädtisch und ländlich geprägten Regionen, in denen die gewählten Vertreter*innen in den Kommunalparlamenten ehrenamtlich tätig sind, hat das Engagement einen besonders hohen Stellenwert nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch für die Demokratie.

Demokratische Teilhabe und das sich Einbringen, gerade auch ehrenamtlich, ist essentiell für das Gemeinwesen. Eine solche Beteiligung kann auch dazu beitragen, die (politische) Selbstwirksamkeit zu stärken und somit das Vertrauen in die Demokratie zu erneuern. Zwar hat sich das Vertrauen in Deutschland in den Bundestag, die Landtage, die Landesregierungen und in die politischen Parteien in den letzten Jahren kaum verändert, aber das Vertrauen in die Bundesregierung hat deutlich gelitten. Darüber hinaus gibt es in Deutschland erhebliche regionale Unterschiede: So ist die Akzeptanz der Demokratie als beste Staatsform in den ostdeutschen Bundesländern durchweg geringer als in den westdeutschen. Auch in Bezug darauf, wie zufrieden die Menschen mit der gelebten Demokratie sind, unterscheiden sich Ost und West deutlich (Bertelsmann Stiftung 2019b). Laut einer aktuellen Studie der Friedrich Ebert Stiftung ist nur noch eine Minderheit in Deutschland zufrieden mit der Demokratie. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist unzufrieden damit, wie die Demokratie funktioniert – vor allem im Osten ist Unzufriedenheit groß (Friedrich Ebert Stiftung 2019).

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena, mit der Thüringer Ehrenamtsstiftung, der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt sowie dem MDR veranstaltet die Bertelsmann Stiftung den Fachtag Engagement und Zusammenhalt in Erfurt. Mit der Veranstaltung möchten wir einen Fokus auf Thüringen richten: In dem Bundesland engagiert sich jede*r Dritte ehrenamtlich – diese vielfältigen Beiträge für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind unverzichtbar. Demokratisches und gemeinwesenorientiertes Engagement ist häufig unsichtbar und steht zugleich vor verschiedenen Herausforderungen.

Mit dem Fachtag anlässlich des Thementags „Engagement und Zusammenhalt“ am 16. September 2019 widmen wir uns dem Einsatz und den Schwierigkeiten jener hunderttausender Thüringer*innen, die sich für Zusammenhalt und die Zivilgesellschaft engagieren. Aktuelle Befunde der Forschung und Praxisaktivitäten werden im Rahmen eines Fachgesprächs am Nachmittag vorgestellt und mit Interessierten diskutiert. Am Abend folgt nach einem Impulsvortrag von Georg Restle (Leiter ARD Monitor) eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Was hält die Engagierten zusammen? Zivilgesellschaft zwischen Erfolg und Resignation“. Mit ihm diskutieren Brigitte Manke(Geschäftsführerin der Thüringer Ehrenamtsstiftung), Erika Hermanns (Seniorenbeauftragte der Stadt Eisenach), Thomas Heppener (Leiter des Referats Demokratie und Vielfalt im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) und Timo Reinfrank (Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung).
Weitere Informationen zum Fachtag

Die Bertelsmann Stiftung steht für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt ein, der Verbundenheit, Zugehörigkeit und Teilhabe aller Menschen unabhängig von Herkunft sowie religiöser oder weltanschaulicher Orientierung ermöglicht. Hierfür sind Kontakte, Dialog und Austausch insbesondere vor Ort in den Städten und Gemeinden zwischen Menschen mit unterschiedlichen Werthaltungen notwendig. Hierfür spielt lokales Engagement eine bedeutende Rolle. So kann gegenseitiges Vertrauen und demokratisches Miteinander entstehen.

Quellen:

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), 2016: Der Kitt der Gesellschaft. Perspektiven auf den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), 2017: Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017. Autoren: Regina Arant, Georgi Dragolov & Klaus Boehnke, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ST-LW_Studie_Zusammenhalt_in_Deutschland_2017.pdf

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), 2019a: Städte leben Vielfalt. Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt. Autoren: Frank Gesemann, Kristin Schwarze & Alexander Seidel. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), 2019b: Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Autoren: Rainer Faus, Tom Mannewitz, Simon Storks, Kai Unzicker & Erik Vollmann, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/gesellschaftlicher-zusammenhalt/projektnachrichten/gefaehrdet-schwindendes-vertrauen-den-gesellschaftlichen-zusammenhalt/.

Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.), 2019: Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? Frank Decker, Volker Best, Sandra Fischer & Anne Küppers, https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie.

Reckwitz, Andreas, 2017: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

Simonson, Julia, Claudia Vogel & Clemens Tesch-Römer (Hrsg.) 2017: Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden

Autor: Andreas Grau, Projektmanager | Programm Lebendige Werte bei der Bertelsmann Stiftung.