„Wir sind bei einem Thema, für das es historisch kein Beispiel gibt.“
Nationale Regierungen allein können die ehrgeizigen Ziele der Agenda 2030 nicht umsetzen. Entscheidend für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) ist der Beitrag der Städte. Insgesamt werden schätzungsweise zwei Drittel der 169 Unterziele der 17 SDGs nicht erreicht, wenn Kommunen dabei nicht aktiv mitwirken. Fortschritte mit Blick auf die SDGs können nur erreicht werden, wenn kommunale Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft sowie Unternehmen gemeinsam wirken, um einen Beitrag zur Besserung zu leisten.
Die Bertelsmann Stiftung hatte am 30. September zum Abschluss der Woche des Bürgerschaftlichen Engagements 2024 gemeinsam mit dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und der Kampagne „Engagement macht stark!“, zu einem Thementag in die Bertelsmann Stiftung Berlin am Werderschen Markt eingeladen. Mit der Podiumsdiskussion „Kommunales Engagement für Nachhaltigkeit: von der Kür zur Pflicht" wurde die Rolle von bürgerschaftlichem Engagement vor Ort für Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
Dr. Kirsten Witte, Direktorin des Zentrums für Nachhaltige Kommunen der Bertelsmann Stiftung, begrüßte die Anwesenden herzlich. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit sei es wichtig, dass Städte und Gemeinden miteinander kooperierten. Besonders hob sie die Kooperationen im Netzwerk „Engagierte Stadt“ hervor.
Auch Dr. Lilian Schwalb, Geschäftsführerin des BBE, hieß Podiumsgäste und Zuhörende willkommen.
Der Thementag schließe eine äußerst erfolgreiche Woche des bürgerschaftlichen Engagements 2024 ab, so Schwalb. Mit 20.000 Aktionen habe man einen neuen Teilnahme-Rekord erreicht. Nachhaltigkeit sei für das BBE ein wichtiges Thema. Die SDGs müssten auf lokaler Ebene umgesetzt werden.
Podiumsgäste:
Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister a.D., Mannheim
Samuel Drews, Engagement-Botschafter 2024, Initiative „Plastikfreie Stadt“ Rostock
Dr. Regine Moll, Geschäftsführerin Freiwilligenagentur Lilienthal und Koordinatorin „Engagierte Stadt“
Dr. Kirsten Witte, Direktorin Zentrum für Nachhaltige Kommunen, Bertelsmann Stiftung
Warum seid ihr hier? Mit dieser Frage eröffnete die Moderatorin Linnéa Riensberg die erste Runde.
In seiner Funktion als Oberbürgermeister von Mannheim, so begann Peter Kurz, habe er 2022 einen Verein zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit mitgegründet. Damit wollten er und seine Mitstreiter*innen ökologisch neue Wege gehen. Basierend auf den 17 SDGs wurde in Mannheim zunächst ein Leitbildprozess initiiert. 2500 Menschen beteiligten sich an diesem Prozess mit Aktionen und Events. Das alles sei nicht vorstellbar ohne eine funktionierende Stadtgesellschaft. Immerhin hat Mannheim 320 000 Einwohner*innen.
Regine Moll ist promovierte Meeresbiologin. Die Stadt Lilienthal mit ihren rund 20.000 Einwohner*innen, deren Freiwilligenagentur sie leitet, ist seit 2015 „Engagierte Stadt“.
Samuel Drews wurde am 20. September 2024 BBE-Engagement-Botschafter für den diesjährigen Themenschwerpunkt „Nachhaltig engagiert“. Er kommt aus Rostock und hat dort die Initiative „Plastikfreie Stadt“ gegründet. Ihm ist es wichtig, dass der Trialog zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung geführt werde. Gemeinsam mit seiner Familie hat er sich vorgenommen, jeden Tag drei Plastikteile aus der Natur zu sammeln, um seinen Töchtern eine lebenswerte Erde zu hinterlassen. Das mache er jetzt seit ein paar Jahren.
Kirsten Witte leitet das Zentrum für Nachhaltige Kommunen. „Unsere Kräfte müssen auf vielen Ebenen gebündelt werden“, sagt sie, „besonders die der kommunalen Akteur*innen. Politik, Verwaltung und Wirtschaft müssen zusammen gedacht werden.“ Wichtig sei ihr besonders die Studie der Bertelsmann Stiftung zur Halbzeitbilanz der SDGs in den Kommunen. Sie wünscht sich mehr Städte, die wie Mannheim aktiv sind. Man müsse nicht immer ein Leitbild entwickeln, sondern könne auch mit nur einem wichtigen Projekt anfangen. Dann fingen andere Feuer und machten vielleicht mit.
Wie kamen die Dinge in Bewegung?
„Zuhören ist wichtig“, sagt Regine Moll. „Die größte Expertise haben die Engagierten meist selbst. Man muss die Leute zusammenbringen und sie dann unterstützen.“ Aber die bürokratischen Hürden seien mitunter viel zu hoch, so Moll weiter. Die Freiwilligenagenturen seien Vereine. Jedes Jahr müsse ein neuer Antrag auf Unterstützung gestellt werden. Das binde zu viele Kapazitäten, die anders effektiver genutzt werden könnten.
Samuel Drews verwies darauf, dass die Messlatte bei den 17 SDGs sehr hoch sei. Man müsse abwägen, welches Ziel man verfolgen wolle, welches Priorität habe. Fälle man zum Beispiel drei Bäume, um Platz für ein Volksfest zu haben, um damit den sozialen Zusammenhalt zu festigen, verstoße man gegen ein anderes Ziel. Peter Kurz ergänzte, dass es ein Setting von definierten Zielen geben müsse. Aber wie werden die Ergebnisse gemessen? Auch müsse man sich zwischenzeitlich fragen, was man schon erreicht habe.
Kirsten Witte erläuterte das SDG-Portal der Bertelsmann-Stiftung. Hier könne jeder anhand vergleichbarer Daten schauen, wo seine Kommune aktuell stehe. Wie groß ist zum Beispiel die Kinderarmut? Wie sieht es bei den Maßnahmen zum Klimaschutz aus?
Daphne Büllesbach, Geschäftsführerin der Berlin Governance Plattform, erläuterte, was diese Plattform anbietet. Das Team entwickelte lokale Beteiligungsformate, die zwischen unterschiedlichen Interessen vermitteln und so zu nachhaltiger Stadtentwicklung beitragen. Sie bauen Brücken zwischen nationaler und internationaler Klimapolitik und moderieren Dialoge zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft.
Wenn es um Windräder gehe, ergänzte Kirsten Witte, seien alle dafür, nur nicht in der eigenen Kommune. Aber wenn man finanzielle Anreize schafft, vielleicht eine Genossenschaft gründet, dann wären die Leute dafür.
In kleineren Orten, ergänzte Lilian Schwalb, gelinge das meist gut, aber wie funktioniert das zum Beispiel in Mannheim? Peter Kurz erläuterte die acht Handlungsfelder des European Green Deals am Beispiel der Stadt Mannheim. Wichtig sei vor allem, die Wirtschaft mit ins Boot zu holen.
Kirsten Witte fragte, wie sich Unternehmen für ihre Region engagieren könnten. Anders als Kommunen müssten Unternehmen mittlerweile Nachhaltigkeitsberichte schreiben. Diese Erfahrungen könne man nutzen.
Samuel Drews erläuterte die Initiative „Plastikfreie Stadt e. V.“ in Rostock. Ziel ist es, die Stadt plastikfreier zu gestalten. Pro 100.000 Einwohner*innen soll es mindestens 50 Orte geben, an denen man sein Essen und seine Getränke in Mehrweg-Behältern bekommt. Dafür werbe man auch an ungewöhnlichen Orten, um die eigene „Bubble“ zu verlassen. Volksfeste seien beispielsweise dafür ein exzellenter Ort.
Markus Priesterath, Bundesministerium des Innern und Heimat (BMI), warf ein, dass es für Klimaschutz als Pflichtaufgabe in den Kommunen momentan keine Mehrheiten gebe. SDGs seien aber eine gute Messlatte. Peter Kurz ergänzte, dass man bei einem Thema sei, für das es historisch kein Beispiel gäbe. Viele kleine Ideen und Beispiele zählten. So wurde in Mannheim eine Initiative gegründet, bei der ein Unternehmen die Abfallprodukte eines anderen nutzt. Für das eine ist es Abfall, für das andere aber ein noch zu verwertender Rohstoff. Hier müsse man Synergien schaffen und nutzen.
Erzählt doch noch etwas von anderen Einzelinitiativen, hakte Linnéa Riensberg nach.
Samuel Drews hob den CleanUp Day in der Hansestadt Rostock hervor. Nach vier Jahren Privatinitiative habe die Stadt volles Engagement und Unterstützung durch das Amt für Ehrenamt und Sport geleistet und Strukturen geschaffen. Jetzt unterstütze die Stadt die Ehrenamtlichen administrativ, so dass diese sich auf ihr Projekt konzentrieren können.
Regine Moll erwähnte die 10.000 bis 15.000 Euro aus dem Nachhaltigkeitshaushalt der Gemeinde Lilienthal, die an Vereine und Verbände gehen.
Kirsten Witte meinte, dass gerade Sportverbände den Zusammenhalt stärkten. Dort sei es völlig normal, dass der Sohn aus der Akademikerfamilie mit dem Migrantenkind Fußball spiele.
Sollte zivilgesellschaftliches Engagement zur Pflicht werden?
Samuel Drews hält das für eine gute Idee. Im Pflegeheim zu arbeiten eröffne neue Sichtweisen. Man müsse positive Anreize schaffen, ergänzte Regine Moll, eine Pflichtaufgabe wirke aber immer übergestülpt. Ein Anreiz könne eine kostenlose ÖPNV-Karte sein. Aber man müsse auch schauen, so Drews, was einzelne Personen genau brauchen. Vielleicht gäbe es irgendwann einen Baukasten für Engagierte, aus dem sich jeder herausziehen könne, was er brauche.
Der Thementag klang mit einem Get-together aus, bei dem noch lange weiterdiskutiert wurde.