Portraitfoto einer Frau (Farsaneh Samadi)
Engagement-Botschafterin für Integration und Kultur

„Sprache ist ein Geschenk!“

Farsaneh Samadi, Gründerin und Vorsitzende der Initiative Mehrsprachigkeit e. V., Lübeck

Farsaneh Samadi ist Mitbegründerin des Vereins Initiative Mehrsprachigkeit e. V., dessen Projekte Kunst, Literatur und Mehrsprachigkeit verbinden und damit Kindern einen emotional-ästhetischen Zugang zur schriftsprachlichen Welt ermöglichen.

Die Initiative möchte Eltern darin bestärken, ihren Kindern auch in ihrer Familiensprache Geschichten vorzulesen oder zu erzählen und zu Hause lesende Vorbilder zu sein.

„Für uns ist jede Sprache wertvoll“

Farsaneh Samadi im Interview

Farsaneh Samadi ist Engagement-Botschafterin der Woche des bürgerschaftlichen Engagements 2017. Ihr Verein Initiative Mehrsprachigkeit e.V. setzt sich dafür ein, dass Kinder den Kontakt zu Ihren Wurzeln nicht verlieren und stärkt die Literalität in der ganzen Familie. Ein Interview über die Macht einer jeden Sprache – und wieso Deutsch sprechen nicht immer die beste Lösung ist.

 

Frau Samadi, wer in Deutschland lebt, sollte auch Deutsch sprechen – oder?

Absolut! Ich halte es aber für falsch, von Eltern, die kaum Deutsch sprechen können zu verlangen, mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen. Was soll denn dabei rauskommen? In den ersten Lebensjahren ist es sinnvoll, mit der Muttersprache aufzuwachsen: Wenn die Erstsprache bereits gelernt wurde, können die Kinder darauf aufbauen, weil sie Sprachstrukturen verstehen und gelernt haben, wie Sprache funktioniert. Dadurch lässt sich eine zweite Sprache – hier die Deutsche – leichter lernen.

Was spricht noch dafür, dass Kinder mehrsprachig aufwachsen?

Die Erstsprache ist die Sprache, mit der ein Kind zum ersten Mal seine Umwelt emotional wahrnimmt. Darum sollte es schon die Sprache sein, die die Eltern mit dem Herzen sprechen. Stellen Sie sich vor, sie können nur radebrechen Russisch und sollen Ihr Kind auf Russisch herzen, knuddeln und ihm die Welt erklären. Das kann emotional nicht funktionieren. Durch Sprache werden auch die jeweilige Kultur und die Mentalität vermittelt. Kinder mit Migrationshintergrund sind bikulturell. Diese Bikulturalität muss sich auch entwickeln dürfen. Wenn die Sprache unterdrückt wird, kann sich das auch auf die Identitätsfindung auswirken. Wenn das Kind zudem noch Verwandtschaft im Herkunftsland der Eltern hat, kann es womöglich nicht mal mit den eigenen Großeltern kommunizieren.

Haben Sie deswegen die Initiative Mehrsprachigkeit mitgegründet?

Auch. Vor allem waren es persönliche und berufliche Hintergründe. Ich selbst bin Deutsch-Iranerin und wurde in Deutschland geboren. Als Kind konnte ich perfekt Farsi sprechen, irgendwann hat sich dann immer mehr das Deutsche in unseren Familienalltag eingeschlichen – und ich habe die Sprache meiner Eltern verloren. Das war für mich ein echter Verlust.

Und der berufliche Hintergrund?

Ich bin Lehrerin und unterrichte viele Schüler mit Migrationshintergrund. Auch bei ihnen habe ich festgestellt, dass viele die Sprache ihrer Eltern nicht mehr so gut sprechen können – aber leider auch Deutsch nicht gänzlich beherrschen. Da erschien es mir notwendig, für die Mehrsprachigkeit in multilingualen Familien zu werben. Ich berate Eltern, Lehrer und Erzieher dahingehend, dass Familien ihre Herkunftssprache behalten und sie auch mit ihren Kindern sprechen dürfen – und wie sie das erfolgreich umsetzen können. Ich habe tolle Menschen gefunden, die die gleichen Gedanken hatten und gemeinsam haben wir 2014 den Verein gegründet.

Der Satz „Sprechen Sie mit Ihrem Kind zuhause doch bitte Deutsch“ gilt also nicht mehr?

Den Satz gibt es leider immer noch – und er verunsichert Eltern sehr! Aber glücklicherweise verändert sich dieses Denken langsam. Trotzdem sitzt in vielen Köpfen immer noch die Angst, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund kein Deutsch lernen, wenn zuhause die Familiensprache gesprochen wird. Unser Rat lautet: Sprechen Sie mit Ihrem Kind Ihre Herzenssprache. So können die Kinder die erste Sprache perfekt lernen, was, wie bereits erläutert, das Erlernen einer zweiten Sprache erleichtert. Natürlich ist die Beherrschung der deutschen Sprache unabdingbar, um in Deutschland erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Darum sollten multilingual aufwachsende Kinder mindestens drei Jahre die Kita besuchen und Schüler sich auch nachmittags in einem deutschsprachigen Umfeld bewegen.

Wofür setzt sich die Initiative Mehrsprachigkeit e.V. noch ein?

Kurz gesagt verbinden wir Literatur, Kunst, Theater und Mehrsprachigkeit und ermöglichen den Kindern einen emotional-ästhetischen Zugang zur schriftsprachlichen Welt. Ein wichtiges Ziel des Vereins ist es, Literalität in Familien zu stärken – also die Erzähl- und Vorlesekultur zu fördern. Und das betrifft alle Familien. Wir sind überzeugt, dass man die Liebe zu Büchern in jeder Sprache wecken kann. Wenn ein Kind kurdische Geschichten mag, wird es wahrscheinlich später auch deutsche Geschichten lieben. Wie ein Märchen aufgebaut ist, wie ein Spannungsbogen funktioniert, welche Fantasien Geschichten wecken – all das kann man auch aus fremdsprachigen Geschichten erfahren und später auf deutschsprachige Geschichten übertragen. Literatur und Kunst sind sehr wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Deswegen bieten wir den Kindern in unseren Projekten vielfältige künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten an und besuchen gemeinsam die Stadtbibliothek Lübeck und das Kindertheater. Wir versuchen bei diesen Ausflügen immer auch die Eltern mit ins Boot zu holen, um sie zu motivieren, die kulturelle Bildung ihrer Kinder fortzusetzen.

Verfolgt der Verein auch ein politisches Ziel?

Wir möchten durch unsere Projekte, die Beratung und unsere anderen Veranstaltungen für die Sprachenvielfalt in der Gesellschaft werben. Gerade, weil in unserer monolingual sozialisierten Gesellschaft Bilingualität teilweise noch kritisch gesehen wird. Sprache ist ein Geschenk, das uns in die Wiege gelegt wird  – entsprechend schade ist es, wenn sie verloren geht. Was man nicht kennt, macht einem oft Angst. Unsere Projekte sind so angelegt, dass jede Sprache ihren Raum bekommt. Die Kinder erfreuen sich an dem Klang der Sprache – ohne sie zu verstehen. Dadurch kann man den Ängsten entgegenwirken und einen selbstverständlichen Umgang mit der Sprachenvielfalt fördern.

Ihre Projekte richten sich also nicht nur an Kinder mit Migrationshintergrund.

Richtig. Wir lieben die Heterogenität und wollen keine monolingualen Gruppen. Unser gemeinsames Medium in den Projekten ist immer die deutsche Sprache. Aber jeder kann seine Sprache einbringen. Da singen wir mal ein polnisches, kurdisches oder italienisches Lied oder eine Geschichte wird erst auf Deutsch und danach auf Arabisch erzählt.

Ihr Verein fördert also Toleranz bei Kindern für Sprachen. Die sind in der Regel aber generell aufgeschlossen und recht frei von Vorurteilen. Müssten Sie nicht eigentlich in der Erwachsenenbildung arbeiten?

Das machen wir durch Veranstaltungen wie das Language-Speed-Dating, Vorträge und Beratung auch. Außerdem erreichen wir die Eltern in den Kita-Projekten, indem wir sie mit einbinden. Auch die Pädagogen erreichen wir durch unsere Projekte. Es kommt manchmal vor, dass einige unser Konzept nicht verstehen. Wir lesen bei unserem interaktiv gestalteten mehrsprachigen Erzähltheater eine Geschichte auf Deutsch und eine auf einer anderen Sprache, die von einer Muttersprachlerin vorgetragen wird. In der Regel verstehen nur wenige Kinder die Muttersprachlerin, aber sie verstehen die Geschichte auf Deutsch. Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wie begeistert die Kinder dem Klang der fremden Sprache lauschen. Diese Erfahrung bewirkt oft einen Aha-Effekt bei den Erzieherinnen. Es geht um einen emotionalen Zugang zur Sprache und um die Wertschätzung aller Sprachen. Wir alle wissen, dass es eine Sprachenhierarchie gibt. Wer Französisch oder Spanisch spricht, erntet Komplimente. Suaheli oder Kurdisch dagegen erhalten in der Gesellschaft weniger Wertschätzung, da sie ökonomisch von geringerem Wert sind. Für uns ist aber jede Sprache gleich wertvoll.

Wer sind eigentlich „wir“, wie sieht das Team Ihrer Initiative aus?

Wir sind ein sehr kleiner Verein ohne feste Infrastruktur. Das ist ein Vorteil, da wir uns auf die Finanzierung unserer Projekte konzentrieren können. Ich kümmere mich vor allem um die Konzepte und die Akquise und Monika Sava, eine großartige deutsch-polnische Künstlerin, leitet einige unserer Projekte. Zum Team gehören außerdem Ehrenamtler, die sich vor allem als Vorleser engagieren. Teilweise engagieren sich auch Menschen bei uns, die noch nicht so lange in Deutschland leben. Sie bringen mit ihrer Herkunftssprache ihre Sprachkompetenz ein und verbessern in der Gruppe gleichzeitig ihre Deutschkenntnisse – eine schöne Win-win-Situation. Wir freuen uns sehr, wenn Menschen im Asylverfahren bei uns mitwirken, aber da sie in einer sehr unsicheren und anspruchsvollen Lebenssituation stecken, ist hier die Fluktuation auch hoch.

Das klingt nach Integration – etwas, das angesichts der Flüchtlingswelle stark in den öffentlichen Fokus gelangt ist. Haben Sie das Gefühl, dass Initiativen wie die Ihre das nachholen müssen, was die Politik mitunter versäumt: gelungene Integration?

Meiner Meinung nach, ist „Integration“ nicht die alleinige Aufgabe der Politik. Gesellschaftliches Miteinander kann nur gelingen, wenn wir Menschen uns füreinander engagieren. Die Politik kann und sollte hierfür die Rahmenbedingungen schaffen. Ein Beispiel ist der muttersprachliche Unterricht, der hierzulande keine große Lobby hat. Selbst wenn man glaubt, ihn nicht finanzieren zu können, könnte man ihn zumindest fördern, indem man öffentliche Räume in Schulen und Kitas zur Verfügung stellt und das Thema damit auf die politische Agenda setzt. Das wäre ein Signal nach außen. Diese Maßnahme würde uns sicherlich helfen, was Integration, Sprache, sich willkommen geheißen fühlen anbelangt. Es gibt nach wie vor eine Schieflage bezüglich der Bildungsabschlüsse von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Woran merken Sie, dass Ihre Arbeit in der Initiative Mehrsprachigkeit e.V. Erfolge zeigt?

Mich berührt vor allem, wenn ich sehe, wie unsere Kunstpädagogin es mit viel Herz und Kompetenz schafft, das kreative Potenzial der Kinder freizulegen und die Kinder wunderbare Kunstwerke erschaffen, sodass selbst die Erzieherinnen verblüfft äußern: „Ich  wusste gar nicht, dass unsere Kinder so toll zeichnen können.“ Es ist schön, wenn die Projekte eine eigene Dynamik entwickeln und für alle Beteiligten der Kita ein fester, nicht mehr wegzudenkender Bestandteil geworden sind; so geschehen bei unserem wunderbaren Projekt „KIMAKU – Kita macht Kunst“. Die Kinder freuen sich schon morgens auf den Nachmittag: „Heute ist KIMAKU!“ Die Kinder, die noch keinen Platz im Projekt hatten und deren Eltern gehen davon aus, dass das Projekt immer weitergeht und sie im nächsten Kurs dabei sein dürfen, obwohl wir wissen, dass die Finanzierung ausläuft. Dass das angegliederte Familienzentrum dann bereit ist, aus seinem Budget eine Teilfinanzierung vorzunehmen, ist ein großer Erfolg und eine Anerkennung unserer Arbeit.